Mit 16 beschließt kein künstlerisch involvierter Jugendlicher Werbetexter, Gebrauchsgrafiker oder schnöder Produktdesigner zu werden. Die Seele fühlt sich berufen zum Zeichner, Dichter und Bildhauer. So schreibt sich unser Eleve an der Kunsthochschule ein und schon hier wird die Kunst zur Hausaufgabe und Seminarprojekt, zum Ausdruck der benoteten Leistungs- statt bohemehaften Leidensfähigkeit. Und ist das Studium vorbei, kündigen auch die einstigen elterlichen Mäzene die Freundschaft auf und unser längst innerlich verhärtetes Sensiblchen muss von der Welt der Kunst in die Welt der Kreativen. Jagt von Praktikum zu Praktikum in steter Hoffnung auf eine bezahlte Tätigkeit. Der Mut des jugendlichen Leichtsinn, die hoffnungsvolle Suche nach der Kunst weicht vor der Feigheit der Unterordnung, die Suche nach der künstlerischem Antwort weicht zurück vor dem kreativ grell schreienden Werbeplakat. Der Lebenslauf vernichtet das Werksverzeichnis.
Vollkommen überraschend kam es nicht. Ich spürte ich bereits in den letzten Tagen, dass es langsam wieder soweit sein müsste. Und tatsächlich, ich greife hinein und unter den losen Prospekten ertasten die Fingerkuppe etwas Massives. Ich zog den Stapel Papier heraus und entblätterte ihn von den umwallenden Werbeblättchen. Und ich hielt den neuen Ikea-Katalog in meinen Händen. Ich schwinge mich die zwei Treppen zu meiner Wohnung hoch, lasse die Tasche falle, und noch während ich die Jacke ausziehe, aber die Schuhe noch anhabe, schlage ich ihn an einer zufälligen Stelle auf. Ich betrachte, lese und betrachte wieder. Und ich bin gebannt und mag es zuerst nicht für möglich zu halten.
Irgendwo muss in diesem großen Apparat jemand eine Idee gehabt haben. Und dann hatte sie oder er nicht nur den Mut diese Idee auch umsetzen zu wollen, sondern auch genug Geschick gehabt haben, sie unauffällige durch die Instanzen zu bringen. Es gibt auch die Möglichkeit, dass es ein gezielter Schachzug war, aber zum einen würde dies der Sache die Romantik nehmen. Zum anderen ist die Sache zu unauffällig, nur dem kritischem Betrachter zugänglich, schlicht das ganze Gegenteil dessen, was Kreative erreichen wollen, wenn sie zum Mittel der Selbstironie greifen. Neugierig? Das Werk findet sich auf Seite 233.
Auf dem ersten Blick sieht es recht belanglos aus. Drei Minibüro-Kombinationen, je mit Schreibtisch, Stuhl und Regal, je unterschiedliche Preisschienen. Aber spätestens die Textüberschriften verraten den subversiven Kontext.
„Mehr Platz zum Dichten und Denken“ - das ist das billigste Angebot, Tisch und Schreibtisch aus unlackiertem Holz. Wer soll daran Platz nehmen? Wir sehen den wollbärtigen Philosophiestudenten vor uns, oder den unentdeckten Literaten. Das unbehandelte Holz erinnert sie an ihr rauhes Leben, an die ungnädige Gesellschaft, es ist das Gegenstück zum glatten, polierten Mainstreams. Und zugleich bildet diese Kombination jenen Ikea-Kunden ab, der sich Ikea gerade so leisten kann, weil die Eltern doch einmal gnädig sind und das Kind sich weigert jene praktischen Fliesentische aus dem billigen Einrichtungshaus zu akzeptieren.
Zentrales Element der zweiten Kombination ist die Schublade: „Mehr Schubladen an Ort und Stelle“. Ja, wie sehen wir gerade hier den kleinen, provinziellen Spießbürger vor uns! Den Sachbearbeiter und den Angestellten, die an ihrem Schreibtisch in den Versicherungsunternehmen und Verwaltungen die Welt in ihre Vorschriften einpassen. Nein, Eiche rustikal war früher, gerade der Kleinbürger versucht sich zu tarnen und entlarvt sich gerade durch seine Tarnung. Gerade die kleinprovenzielle Frau erkennen sie an ihren kurzen Haaren mit ihren bunten, peppigen Strähnchen. Sie betrachtet sich als Punk und jung, als unspiessig und teilt doch jeden in ihre Schubladen ein. Die Buntheit der Schubladen sind auch nur neckisches Zierelement in dieser Tarnung. Dass ihr Rollcontainer keine Bücher aufnehmen kann, stört sie nicht, und die Rollen erlaubt es ihre Schubladen mit zunehmen, wohin immer es sie auch verschlagen mag.
Und schließlich der Kreative: „Mehr Stauraum für gute Ideen“. Ja, Ideen müssen verstaut werden! Denn irgendwann wird der Kreative genug Geld verdient haben und kündigen können. Und dann, dann! Dann wird er mit seinen Ideen Kunst schaffen. Bis dahin braucht er diese schwarz-weiße Kombination. Das weiße Regal mit seinen darin gelagerten Ideen, jener seelige Ort des höheren Strebens, die ständige Erinnerung an den inneren Künstler. Der Tisch hingegen, mit seiner schwarzen Tischplatte mahnt an die dunkle Seite des Lebens - das Brot, das Geld, die Arbeit des Kreativen zum Zwecke der Verführung und der Kostenoptimierung. Und das es sich um die teuerste Kombination handelt versteht sich beim Kreativen von selbst, schließlich muss er sich im Materiellen vom Pöbel abheben, wenn er es schon nicht geistig schafft.
Bewundern wir an dieser Stelle jenem unbekannten Künstler, der die Idee hatte, die Idee durchbrachte, die Texte entwarf, die richtigen Möbel heraussuchte und kombinierte, schließlich diese Kombinationen fotografieren lies und vielleicht verhinderte, dass im letzten Moment das Layout umgestellt wurde.